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2020. Eine Abrechnung.

Ein Artikel von Wolfgang Zechner | 14.12.2020 - 16:38
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Normalerweise heißt es: Abgerechnet wird zum Schluss. Weil in diesem merkwürdig-schrecklichen Jahr 2020 von Normalität keine Rede war, rechne ich ausnahmsweise nicht zum Schluss ab, sondern nach zehn Monaten. Zumindest, wenn es um die Frage nach der Marktführerschaft im österreichischen Lebensmittelhandel geht. KEYaccount liegen nämlich die Nielsen-Zahlen von Oktober vor. Und die sprechen eine deutliche Sprache. Spar kommt im Oktober auf 35,5 Prozent, Rewe auf 32,9 Prozent. Zum Vergleich: Im Oktober 2019 hielt Spar noch bei 33,3 und Rewe bei 34 Prozent. Aufs Jahr gerechnet, also für den Zeitraum Jänner bis Oktober, bedeutet das Folgendes: Spar hält bei einem Marktanteil von 34,3 Prozent und Rewe bei 33,3 Prozent. Ein ganzer Prozentpunkt Abstand ist nach menschlichem Ermessen in den letzten beiden Monaten nicht mehr einholbar. Zumal der scheidende Spar-Vorstandschef Gerhard Drexel mir gegenüber Anfang Dezember durchblicken hat lassen, dass die Geschäfte auch im November extrem gut gelaufen sind. Was bleibt da noch groß zu sagen? Außer vielleicht? Gratulation an Spar. Das Unternehmen hat in den vergangenen Jahren vieles richtig gemacht und erntet jetzt die Früchte seiner langjährigen Strategie. In der Coverstory der vorliegenden Ausgabe erläutert der scheidende Spar-Vorstandsvorsitzende Gerhard Drexel die Hintergründe des Erfolgs.

Ich gebe es zu: Hätten Sie mich vor genau einem Jahr gefragt, ob Spar eine Chance hat, in nur zwölf Monaten Rewe zu überholen und deutlich abzuhängen, hätte ich gesagt: Nie im Leben. Fairerweise muss ich sagen, dass ich mir vor zwölf Monaten vieles nicht hätte vorstellen können, was heute bittere Realität ist. Eine globale Pandemie, die Hunderttausende Opfer fordert, ganze Wirtschaftszweige, die ums nackte Überleben kämpfen, keine Reisen, keine Verwandtenbesuche und überall Masken. Noch was hätte ich mir vor einem Jahr nicht vorstellen können: Dass so viele gutgläubige Menschen auf Verschwörungstheorien, Scharlatane und miese Pandemie-Leugner reinfallen.

Der Lebensmittelhandel spielte in diesem Pandemiejahr eine ganz besondere Rolle. Ja, es stimmt, die Branche steht heute im Vergleich zu vielen anderen Branchen sehr gut da. Aber dieser Erfolg wurde hart erarbeitet. Gerade inmitten der Ungewissheit des ersten Lockdowns im Frühling war der LEH ein beispielloser Stabilitätsfaktor im Land. Und vor allem die Zehntausenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Märkten leisteten Übermenschliches. Die Ketten schütteten teilweise Sonderprämien aus. Hoffentlich kommt da noch mehr. Wenn die Krise endgültig vorbei ist, muss man auch auf politischer Ebene darüber reden, wie etwa Handelsangestellte langfristig steuerlich bessergestellt werden können.

Interessanterweise veränderte sich auch die Branche selbst. Die Marktteilnehmer rückten näher zusammen. In der Vergangenheit gab es mit Ausnahme von diversen ECR-Arbeitsgruppen wenig aktive Berührungspunkte. In der Regel herrschte Eiszeit zwischen den Marktteilnehmern. Das Jahr 2020 änderte auch das. In der Krise wurde schnell klar, dass alle Händler im selben Boot sitzen. Und der weltweit größte Krisengewinner, der Onlineriese Amazon, entwickelte sich zum neuen, gemeinsamen Außenfeind. Auch wenn in der Kritik an Amazon manchmal zu sehr eine nationalistische und protektionistische Note mitschwingt, muss man eines schon klar und deutlich sagen: Die Steuerpraktiken des Konzerns erscheinen fragwürdig. Der Vorwurf, dass ein riesengroßer Marktteilnehmer wettbewerbsrechtliche Vorteile nutzt, die himmelschreiend ungerecht sind, ist nicht von der Hand zu weisen. Apropos Tauwetter unter den Handelsketten: Als Spar, Hofer und Lidl im Zuge der Diskussion rund um Sortimentsbeschränkungen eine gemeinsame Presseaussendung verfassten, glaubten langjährige Marktbeobachter im ersten Moment an einen Fehler in der Matrix. Das erschien ungefähr so absurd, als würden Manchester United, Liverpool und Chelsea gemeinsam ein Fußballstadion bauen.  

Und weil wir gerade bei den Diskontern sind: Die taten sich in Sachen Wachstum auch 2020 schwer: Bei den Marktanteilen traten sie in den ersten zehn Monaten mehr oder weniger auf der Stelle. Von Jänner bis Oktober liegen Hofer und Lidl laut Nielsen 0,3 Prozent hinter dem Vorjahr. Kann es sein, dass der Diskont in Österreich endgültig seinen Plafond erreicht hat? Wenn es so wäre, wäre es ein hoher Plafond, keine Frage. Trotzdem wäre ich mit dieser Einschätzung vorsichtig. Das Prinzip Wachstum ist in die Diskont-DNA fest eingeschrieben, sowohl bei Hofer als auch bei Lidl. Außerdem wird Österreich in kommenden Jahren mit den wirtschaftlichen Folgen der Krise hart zu kämpfen haben. Ganze Wirtschaftszweige liegen brach, Hunderttausende verlieren ihren Job, Unternehmen werden pleitegehen – gut möglich, dass die Billiganbieter in diesem Klima eine Renaissance erleben werden.

2020 war – Sie entschuldigen meine Sprache – das bescheidenste Jahr seit Menschengedenken. Denn die noch immer nicht ausgestandene Corona-Krise hinterlässt nicht nur viel Leid und tiefe Narben, sie hat auch andere Problembereiche aus dem Fokus der Öffentlichkeit verdrängt. Klimawandel, Migration und die allgegenwärtige Spaltung der Gesellschaft.

Ein Ereignis soll auch hier nicht unerwähnt bleiben, nämlich der schreckliche Terroranschlag von Wien, bei dem vier Menschen ermordet und der Attentäter von Einsatzkräften erschossen wurde. Das hinterhältige Attentat hatte sogar ein medienpolitisches Nachspiel, weil die großen LEH-Ketten einen zeitweiligen Werbeboykott über Boulevardmedien verhängten, die sich am Tag des Anschlags durch besonders miese Berichterstattung hervortaten.

Was ist noch passiert in diesem Unjahr? Donald Trump wurde in den USA ziemlich deutlich abgewählt. Immerhin. Das ist ein erster Schritt weg von der Lüge und hin zur Kooperation. Eine isolationistische USA, die sich offen gegen ihre europäischen Verbündeten stellt, ist ein Unding – auch für die heimische Wirtschaft. Und die ignorante Klimapolitik der Trump-Administration war für die ganze Welt eine Zumutung. Alles deutet darauf hin, dass es hier eine Kehrtwendung gibt. Mit Trump wurde auch ein radikaler Egoismus abgewählt. Hoffen wir, dass das Prinzip Zusammenarbeit in den nächsten Jahren ein Comeback feiert.

2020 ist in wenigen Tagen Geschichte. Man ist verleitet zu sagen: zum Glück. Dann fällt einem ein, dass es sich beim Jahreswechsel nur um ein kalendarisches Ereignis handelt. Die Probleme werden bleiben. Noch! Doch es gibt Licht am Ende des Tunnels: Impfungen werden 2021 kommen. Das gibt Hoffnung. Und was kann es Besseres geben als Hoffnung?