COVER-STORY KEYACCOUNT 11/2020

Zerreißprobe für die Lieferkette

Ein Artikel von Wolfgang Zechner | 16.06.2020 - 12:37
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© Hannes Eisenberger

Die Verwundbarkeit der globalen Supply Chain wurde den Menschen  in der Covid-19-Krise schonungslos vor Augen geführt. Doch wie kann man als Unternehmen die Lieferkette stärken und sich dadurch fit für die nächste Krise machen? KEYaccount sprach dazu mit Gregor Gluttig, Wiener Supply Chain-Experte und Managing Partner bei der Beratungsagentur TenglerGluttig.

Germ und Klopapier. Es ist ein ungleiches Paar – und trotzdem wurden diese beiden Produkte zum Symbol der Coronakrise. Warum die Konsumentinnen und Konsumenten gerade Backhefe und Reinigungstücher in ungewöhnlichen Mengen gekauft haben, wissen die Logistiker nicht. Diese Frage wird – wenn überhaupt – von Psychologen beantwortet werden. Trotzdem rückten die Logistik und die Lieferkette während der Coronakrise in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Erst wenn mal was fehlt, fällt vielen Menschen auf, dass es gar nicht so selbstverständlich ist, dass die Regale zum Bersten voll sind. Gerade im Lebensmittelhandel entwickelte sich die Lieferkette zum Superstar in der Krise. Denn die Regale waren selbst am Höhepunkt der Pandemie in Österreich gut gefüllt. Die Supply Chain hat gehalten, wenn man so will. Einer, der aus den vergangenen Wochen viele neue Erkenntnisse gewinnen konnte, ist Gregor Gluttig. Früher war er Logistik-Koordinator bei Rewe, Vorstandsassistent bei Railcargo und Leiter der Wiener Inhouse-Consultingfirma von Gebrüder Weiss. Heute betreibt er gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Andreas Tengler eine Wiener Agentur, die sich auf die Planung, Steuerung und Optimierung von globalen Lieferketten spezialisiert hat. Gluttig ist noch keine 40 Jahre alt, in Sachen Supply Chain aber trotzdem schon ein „alter Hase“. In der aktuellen Situation sind seine Dienste sehr gefragt. Denn viele Unternehmen sind mit einem blauen Auge aus der Krise herausgekommen und haben nun eine Frage: Wie kann ich die Folgen von künftigen Krisen abfedern?

Drei Phasen der Krise

Die Coronakrise teilt Gluttig in drei verschiedene Phasen. Die erste Phase war die Zeit vor dem Lockdown. „Da war es erstmal wichtig, Transparenz in die Bestände und die Produktionspläne zu bringen“, sagt der Experte. In der zweiten Phase, also im Lockdown selbst, war es laut Gluttig entscheidend, das Forecasting, also den Planungszyk­lus, zu verkürzen. „Viele Unternehmen, die gut durch die Krise gekommen sind, haben die monatlichen Sales- und Operations-Planning-Meetings plötzlich wöchentlich oder sogar täglich angesetzt“, so der Supply Chain-Stratege. Dadurch konnten Unternehmen die entscheidenden Fragen schneller beantworten: Können wir dem Kunden zusagen? Müssen wir verschieben? Können wir produzieren? Haben wir ausreichende Produktionskapazitäten? Liefert der Lieferant? „Wichtig in diesem Zusammenhang sei freilich, dass man das entsprechende technologische Equipment und die nötige Transparenz im Reporting hat“, so Gluttig. Und schließlich gibt es noch die Phase nach dem Lockdown. Hier sei es entscheidend, dass man eng mit den Lieferanten zusammenarbeite, um die in der Krise zurückgefahrene Produktion so schnell wie möglich wieder hochzufahren.

LEH kam gut durch die Krise

Dass die Lieferkette im LEH etwa während der Krise so gut funktioniert hat, führt Gluttig übrigens darauf zurück, dass die Ketten „sehr eng mit ihren Lieferanten kommuniziert haben“. Dadurch habe man sich sehr schnell auf die neue Situation einstellen und flexibel reagieren können. „Außerdem wissen die LEH-Ketten sehr genau, was die Kundinnen und Kunden kaufen und können dadurch sehr genau vorhersagen, was die Bevölkerung künftig kaufen wird. Hinzu kommt, dass der Lebensmittelhandel in der Lieferkette einen hohen Grad an Standardisierung hat – von der Palettengröße bis zum Barcode.“ Das alles, so Gluttig weiter, erleichtere die Planung ungemein.

Lokale Produktion als Lösung?

Viele Politiker fordern nun, dass die Lieferketten verkürzt werden sollen, sprich dass Produktionen nach Österreich geholt werden sollen. Ist das realistisch, will ich von Gluttig wissen. Dieser ist skeptisch. „Das können sich Unternehmen nur in den seltensten Fällen leisten. In den kommenden ein, zwei Jahren wird der globalisierte Handel um rund 30 Prozent zurückgehen. Gerade in schwierigen Zeiten sind Produzenten auf günstige Einkaufskonditionen angewiesen.“ Vielmehr rät Gluttig Unternehmen dazu, eine gewisse Segmentierung vorzunehmen. „Das bedeutet, dass man sich als Unternehmen überlegen soll, welche Einkaufsteile strategisch so wichtig sind, dass sie unbedingt und immer verfügbar sein müssen.“ Hier müsse man sich überlegen, ob es Möglichkeit gibt, diese Komponenten lokal zu besorgen. Als Alternative könne man auch versuchen, Bestände aufzubauen, so der Experte. Trotzdem gibt es laut Gluttig auch Branchen, die jetzt ihre Produktionen lokal konzentrieren, um die Versorgung zu gewährleisten. „Unterm Strich muss jedes Unternehmen die Kosten und Risiken einer Produktionsverlagerung ganz genau abwägen“, rät Gluttig.

Künstliche Intelligenz findet Risiken

Außer Frage steht für Gluttig, dass die nächste Krise kommt. Und zwar bestimmt. Vor allem die Klimakrise dürfte für die globalen Lieferketten zur Zerreißprobe werden. Damit kommen wir auf die Frage zurück, die bereits eingangs gestellt wurde: Wie können sich Unternehmen darauf vorbereiten? Entscheidend ist für Gluttig, dass man mehr Transparenz in die Lieferkette bekommt. „Das bedeutet, dass ich als Unternehmen mein Risiko-Universum kennen muss – und zwar bis zum Lieferanten meiner Lieferanten.“ Mittlerweile gibt es hier sehr gute Software-Systeme, die dafür sorgen, dass man hier den Überblick nicht verliert. „Diese Systeme funktionieren wie Landkarten, auf denen alle Lieferanten eingezeichnet sind. Wenn zum Beispiel bei einem Lieferanten ein Feuer ausbricht, werde ich von der Software gewarnt. Oder ein anderes Beispiel: Das System verständigt mich rechtzeitig, wenn in einem bestimmten Hafen ein Streik angekündigt ist.“ Solche Programme gibt es laut Gluttig bereits in sehr mächtigen Ausführungen. Diese sogenannten Supply Chain Control Tower analysieren nicht nur potenzielle Risiken für die Lieferkette, sondern schlagen gleich auch entsprechende Gegenmaßnahmen vor.

Dual Sourcing bringt mehr Stabilität

Auch glaubt Gluttig, dass Dual Sourcing, also die Doppelquellenbeschaffung, künftig noch wichtiger werden wird. Gluttig nennt in diesem Zusammenhang Toyota. Der japanische Autohersteller stellte seine Lieferkette im Jahr 2011 nach der Katas­trophe in Fukushima neu auf. Vor allem bei kritischen Komponenten führte Toyota eine 60-20-20-Regel ein. Das bedeutet, dass 60 Prozent der benötigten Teile vom Hauptlieferanten kommen und die restlichen 40 Prozent von zwei anderen Unternehmen. Das führt zwar in der Regel zu einem Kostenanstieg, macht aber die Lieferkette im Krisenfall widerstandsfähiger.

Unterm Strich bleibt die Erkenntnis, dass jede Krise vielleicht nicht unbedingt eine Chance, dafür aber eine Lehre ist. Und die Lehre aus der Covid-Krise für die Lieferkette lautet: mehr Transparenz, mehr Technologie, mehr Kommunikation.

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