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© Hannes Eisenberger

NUTRI-SCORE

Der NUTRI-SCORE entzweit die BRANCHE

Ein Artikel von Wolfgang Zechner | 15.03.2023 - 11:33

Der deutsche Hustenbonbon-Hersteller Vivil ist kein Unternehmen, das permanent in den Medien vorkommt. Schon gar nicht in den italienischen. Das änderte sich dieser Tage. Das Unternehmen wurde nämlich vor Kurzem in Italien zu einem Bußgeld in der Höhe von 10.000 Euro verurteilt. Der Grund: Auf der Verpackung des Herstellers war der Nutri-Score aufgedruckt. Bei der Lebensmittelampel sieht Italien rot. Dass nämlich die Bewertungsskala ohne weitere Erklärungen auf dem Produkt prangt, verstößt gegen das italienische Verbrauchergesetzbuch.

Das Urteil sorgte in der Branche für Aufsehen. Die Strafe ist zwar nicht besonders hoch, hat aber eine klare Signalwirkung. Vor allem die Kritikerinnen und Kritiker des Nutri-Scores fühlten sich bestätigt. Doch alles der Reihe nach. Was ist der Nutri-Score? Dabei handelt es sich um ein System zur Nährwertkennzeichnung von Lebensmitteln; genauer um eine fünfstufige Farb- und Buchstabenskala, mit der den Konsumentinnen und Konsumenten ein Überblick über die Nährwertbewertung eines Produktes geliefert werden soll. Eigentlich eine gute Sache, oder? Nein, wenn man den Kritikerinnen und Kritikern der Ampel Glauben schenkt. Denn die Vorwürfe gegen die aus Frankreich stammende „Nährwert-Kennzeichnung“ sind lang und wiegen schwer. Der größte Vorwurf lautet: Der Nutri-Score führe die Konsumentinnen und Konsumenten in die Irre. Die Nutri-Score-Angaben beziehen sich jeweils auf 100 Gramm eines Produkts. Das führt dazu, dass eine Tiefkühlpizza einen besseren Nutri-Score als Olivenöl haben kann. Dass dieser Umstand der stolzen italienischen Lebensmittelindustrie nicht gefällt, ist klar. Hinzu kommt, dass auch bei weiteren Lebensmittel-Heiligtümern aus Italien wie etwa Parmesan oder Parmaschinken das Nutri-Score-Ampelsystem hell- bis dunkelrot leuchtet.

Wenig Wissen bei den Konsumentinnen

Zugegeben: Die Macher des Nutri-Scores und seine Unterstützerinnen und Unterstützer weisen stets darauf hin, dass man ihre Skala nicht dazu benutzen kann, um Produkte aus unterschiedlichen Kategorien miteinander zu vergleichen. Das mag ja stimmen. Nur wissen das die österreichischen Konsumentinnen und Konsumenten? Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Marketagent aus dem Vorjahr unter 500 Personen versucht eine Antwort auf diese Frage zu geben. Und diese Antwort lautet ganz klar: Nein, wissen sie nicht. Demnach haben 74 Prozent der Befragten den Nutri-Score noch nicht einmal wahrgenommen und wissen nicht, was dieser aussagt. Und: Selbst bei jenen Menschen, die laut der Studie den Nutri-Score kennen und glauben zu wissen, was dieser bedeutet, wusste nur ein Drittel, dass der Nutri-Score nur innerhalb einer Warengruppe verglichen werden darf.

Doch es gibt noch weitere Kritikpunkte am Nutri-Score. Themen wie Bio oder Regionalität etwa finden in diesem System überhaupt keinen Niederschlag. Außerdem ist der Bezugswert, der sich auf dem Nutri-Score findet, auf Erwachsenenportionen ausgerichtet. Gerade bei Produkten, die sich an Kinder richten, sei das ein gewaltiges Pro­blem, mokieren Kritikerinnen und Kritiker der Ampel. Überhaupt ist die Standard-Einheit von 100 Gramm auch noch auf eine weitere Weise irreführend. Butter wird mit einem roten E ausgezeichnet. Nur: Wer isst schon 100 Gramm Butter am Stück? Ganz genau, niemand. 

Deutschland schafft Fakten

Wie geht es nun mit dem Nutri-Score weiter? Der Hustenbonbon-Hersteller Vivil werde die Strafe zahlen, heißt es vom Anwalt des Unternehmens. Man sehe keine Chance, vor Italiens Verwaltungsgerichten Gerechtigkeit zu erfahren, so der Anwalt, der in deutschen Medien auch mit folgendem Satz zitiert wird: „Es ist eine Dreistigkeit, dass Italien den Nutri-Score unterdrückt und somit versucht, Fakten zu schaffen.“ Auch auf transnationaler Ebene formiert sich der Widerstand gegen das italienische Nein. Deutschland, Belgien, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Spanien und die Schweiz, also jene Staaten, die auf den Nutri-Score setzen, haben laut Medienberichten die EU-Kommission darum gebeten, das Vorgehen der italienischen Behörde zu untersuchen. Bisher habe die Kommission aber nicht reagiert. Freilich: Die Großen machen auch sonst Druck. Geht es etwa nach dem deutschen Ernährungsminister Cem Özdemir (Grüne), soll die Kennzeichnung bald EU-weit zum Einsatz kommen. Er setze sich in Brüssel für einen „EU-weiten Nutri-Score ein“, sagte er erst im Dezember bei einer Rede vor dem deutschen Lebensmittelverband. Applaus dürfte ihm in so mancher Konzernzentrale sicher sein, zahlreiche Lebensmittelmultis favorisieren tendenziell die französische Ampel. Und Deutschland geht jetzt sogar noch einen Schritt weiter und schafft Fakten: Vergangene Woche gab das Bundesernährungsministerium in Berlin bekannt, dass es das Deutsche Institut für Gütesicherung und Kennzeichnung (RAL) beauftragt habe, die Verwendung des Nutri-Scores in Deutschland zu regulieren. Das Institut ist laut eigenen Angaben seit 1925 die Dachorganisation in Deutschland für Gütezeichen und einer der weltweit ältesten Kennzeichnungsprofis. Die RAL prüft ab sofort die ordnungsgemäße Registrierung, Berechnung und Benutzung des Nutri-Scores und steuert die Marktüberwachung und Missbrauchsverfolgung. Sie hat den Zuschlag als Regulator nach einem EU-weiten Ausschreibungsverfahren erhalten. Inzwischen haben sich laut dem deutschen Ministerium 660 Unternehmen mit rund 1.030 Marken für die Verwendung des Nutri-Scores in Deutschland registriert. Die Nutzung ist derzeit noch freiwillig, die Firmen müssen dann aber verbindliche Vorgaben einhalten.

Spar macht gegen Ampel mobil

Italien kämpft hier also gegen eine Ampel-Übermacht. Und Österreich? Hier ticken die Uhren bekanntlich anders als bei unserem südlichen Nachbarn. Eine einheitliche politische Linie scheint zu fehlen. Dabei gibt es genug gewichtige Stimmen aus der Branche, die vor dem Nutri-Score warnen. Im Vorjahr erst präsentierte LEH-Marktführer Spar eine Allianz mit den heimischen Markenartiklern Vivatis und Berglandmilch. Das Ziel: den Nutri-Score zu stoppen. Schützenhilfe bekam das Trio von dem renommierten österreichischen Ernährungswissenschafter Friedrich Hoppichler, der am Nutri-Score kein gutes Haar lässt. Das italienische Urteil dürfte den Gegnerinnen und Gegnern der Kennzeichnung neuen Auftrieb geben. Angesichts der Tatsache, dass sich die großen europäischen Märkte scheinbar für den Nutri-Score entschieden haben, scheint es aber ein Kampf gegen europapolitische Windmühlen. Wir haben bei Spar-Vorstand Markus Kaser nachgefragt.  

Interview

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Spar-Vorstand Markus Kaser ist einer der prominentesten Kritiker des Nutri-Score. © Markus Kaser

KEYaccount: Herr Kaser, kann das italienische Urteil auch Vorbildwirkung für Österreich haben?

Markus Kaser: Schön wärs! Italien hat sich aber als Land eindeutig positioniert und lehnt vollkommen zu Recht den Nutri-Score ab. Aus unserer Sicht eine sehr vernünftige Entscheidung. In Österreich ist das derzeit nicht möglich, weil Österreich hierzu keine eindeutig ablehnende Haltung hat.

Was muss politisch passieren, dass sich der Nutri-Score in Österreich nicht als Standard durchsetzt?

Die Verantwortlichen im Gesundheitsministerium müssten die offenkundigen Schwachstellen des Nutri-Scores erkennen und dagegen vorgehen. Es gibt deutlich bessere Systeme als den Nutri-Score, die nicht zu gravierenden Fehlinterpretationen führen. Wir haben dazu profunde Studien und Expertenstellungnahmen vorliegen.

Welche Aktionen planen Sie als Teil der Initiative gegen den Nutri-Score heuer?

Wir machen immer wieder auf die haarsträubenden Schwachstellen bei dieser Lebensmittelbewertung aufmerksam. Die offenkundigen Schwachstellen müssen viel mehr in die Breite gebracht und kritisch diskutiert werden.

Üben Sie Druck auf Lieferanten aus, den Nutri-Score nicht auf Packungen zu drucken?

Das ist letztlich eine Entscheidung des Herstellers. Aber wir übermitteln natürlich auch den Herstellern unsere Kritikpunkte. Viele haben ohnehin die gleiche Meinung und sind absolut irritiert, dass so etwas Unausgegorenes und Irreführendes überhaupt als Standard überlegt wird.