Lebensmittelkennzeichnung

Das TAUZIEHEN um den NUTRI-SCORE

Ein Artikel von Wolfgang Zechner | 05.04.2022 - 10:07
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© Hannes Eisenberger

Eigentlich ist er noch gar nicht richtig da. Und trotzdem gehen wegen ihm die Wogen in der heimischen Lebensmittelbranche hoch. Die Rede ist vom sogenannten Nutri-Score. Dabei handelt es sich um ein System zur Nährwertkennzeichnung von Lebensmitteln; genauer um eine fünfstufige Farb- und Buchstabenskala, mit der den Konsumentinnen und Konsumenten ein Überblick über die Nährwertbewertung eines Produktes geliefert werden soll. Im Prinzip eine gute Sache, oder? Nein, wenn man den Kritikerinnen und Kritikern des Nutri-Scores Glauben schenken will. Die halten das französische Konstrukt für einen klassischen Fall von: Gut gemeint ist das Gegenteil von gut gemacht.
Es begann in Frankreich ...
Um die Aufregung um die Farbskala zu verstehen, muss man wissen, woher sie kommt und wohin sie will. Seinen Ursprung hat der Nutri-Score in Frankreich. Im Mutterland der Haute Cuisine wird seit rund 20 Jahren darüber diskutiert, wie man die Qualität der Ernährung verbessern und die Bevölkerung darüber informieren kann. In diesem Zusammenhang wurde von der französischen Nationalversammlung vor sieben Jahren ein Gesetz zur Modernisierung des Gesundheitssystems verabschiedet, das auch die Grundlage für eine einheitliche Kennzeichnung der Nährwerte von Lebensmitteln schuf. Im Jahr 2017 erblickte schließlich der Nutri-Score das Licht der Welt. Bereits ein Jahr später kamen die ersten mit dem Nutri-Score gekennzeichneten Produkte in den französischen Handel.

Italien muckt auf
Vor allem Supermärkte und Discounter sorgten in Frankreich für eine flächendeckende Verbreitung des Nutri-Scores. Doch das war nur der Anfang. Es dauerte nicht lange und der Nutri-Score schwappte ins benachbarte Ausland über. Im März 2021 begann Aldi damit, den Nutri-Score auf seine Eigenmarken zu klatschen. Auch Rewe und Edeka kündigten ähnliche Schritte an. Als auch große Lebensmittel-Multis wie Iglo begannen, den Nutri-Score anzuwenden, schien die Sache gegessen. Die Ampel sprang auf Grün und das französische System würde sich bald in ganz Europa ausbreiten. Doch halt! Die Multis und Handelsketten hatten die Rechnung ohne den italienischen Wirt gemacht. Denn schnell stellte sich heraus, dass der Nutri-Score den italienischen Nationalheiligtümern Parmesan, Parmaschinken und Olivenöl kein gutes Zeugnis ausstellt. Schlimmer noch: Das Dreigestirn der Stiefel-Kulinarik leuchtete hell- bis dunkelrot. Die Tatsache, dass im Vergleich dazu zuckerreduzierte Süßigkeiten aus internationalen Konzernküchen im grünen Bereich lagen, trieb den italienischen Verantwortlichen die Zornesröte ins Gesicht. Kekse aus Holland gut, aber Käse aus Bella Italia böse? Das ging den südländischen Gourmets dann doch zu weit. Italien zog die Reißleine. Nutri-Score? No grazie! Die italienische Wettbewerbsbehörde leitete prompt eine Untersuchung gegen den französischen Supermarktriesen Carrefour und andere Lebensmittelunternehmen in ganz Europa ein, die damit begonnen hatten, jene Produkte, die sie in Italien verkaufen, mit dem Nutri-Score-Label zu versehen. Italien erfand außerdem ein alternatives Etikett namens Nutrinform.
Doch nicht nur Italien sieht sein kulinarisches Erbe von französischen Lebensmittel-Bürokraten und ihren Verbündeten in den internationalen Konzernzentralen bedroht. Auch in Österreich forciert sich der Widerstand gegen die Ampel. Drei der wichtigsten Kritiker des neuen Systems sind der LEH-Marktführer Spar, der größte heimische Lebensmittelproduzent Vivatis sowie Berglandmilch, der mit Abstand umsatzstärkste österreichische Milchverarbeiter. Drei nationale Goliaths, die sich aber trotzdem im europäischen Kontext jeweils als David verstehen.

Ein Arzt schlägt Alarm
Um ihre Bedenken zu untermauern, hat sich das Score-kritische Trio wissenschaftliche Unterstützung in Person des renommierten österreichischen Ernährungswissenschaftlers Friedrich Hoppichler geholt. Und in der Tat: Hoppichler, Vorstand der Inneren Abteilung und Ärztlicher Direktor der Barmherzigen Brüder in Salzburg, geht mit der französischen Kennzeichnung hart ins Gericht. Sie würde gesundheitsrelevante Lebensmittelbestandteile ignorieren, irreführende Berechnungen verwenden, das Thema Zucker zu wenig berücksichtigen und Süßstoffe, Farb- und Konservierungsstoffe ignorieren. Auch die Verwendung von Pflanzenschutzmitteln oder gentechnikveränderten Zutaten würde sich im Nutri-Score nicht niederschlagen, kritisiert der Mediziner. Und: Der Nutri-Score ist laut Hoppichler irreführend. Dazu muss man wissen, dass die Nutri-Score-Angaben sich jeweils auf 100 Gramm eines Produkts beziehen. Dass diese Vereinheitlichung die Wahrnehmung der Konsumentinnen und Konsumenten verzerren kann, liegt laut Hoppichler auf der Hand. „100 Gramm sind etwa bei einer Tiefkühlpizza eine geringe Menge. Bei Olivenöl oder Ketchup sind 100 Gramm wiederum eine unverhältnismäßig große Menge“, erklärt der Mediziner. Dadurch sei es auch möglich, dass Olivenöl mit einer schlechteren Nutri-Score-Bewertung abschneidet als eine handelsübliche Tiefkühlpizza.

Was wissen die Konsumentinnen?
Dass mithilfe des Nutri-Scores bei den Konsumentinnen und Konsumenten der Eindruck entstehen könnte, Olivenöl sei ein ungesünderes Lebensmittel als eine TK-Pizza, erscheint tatsächlich extrem problematisch. Dass die Macher des Nutri-Scores stets darauf hinweisen, dass man ihre Skala nicht dazu benutzen kann, um Produkte aus unterschiedlichen Kategorien miteinander zu vergleichen, mag ja stimmen. Nur wissen das die österreichischen Konsumentinnen und Konsumenten? Eine aktuelle Umfrage unter 500 Personen des Meinungsforschungsinstituts Marketagent versucht eine Antwort auf diese Frage zu geben. Und diese Antwort scheint „Nein“ zu lauten. Demnach haben 74 Prozent der Befragten den Nutri-Score noch nicht einmal wahrgenommen und wissen nicht, was dieser aussagt. „Das sind alarmierende Zahlen, wenn man berücksichtigt, dass es sich beim Nutri-Score um ein sehr komplexes Kennzeichnungssystem handelt, das nur auf den ersten Blick mit seinen Farben simpel wirkt“, findet Spar-Vorstand Markus Kaser und führt weiter aus: „Das bedeutet, dass hier intensiv und umfassend informiert werden müsste, um die Menschen nicht in die Irre zu führen.“ Denn selbst bei jenen Menschen, die laut der Studie den Nutri-Score kennen und glauben zu wissen, was dieser bedeutet, wusste gerade mal ein Drittel, dass ein Produktvergleich mit dem Nutri-Score nur innerhalb einer Warengruppe sinnvoll ist.

Bahlsen und NÖM mit Nutri-Score
Ein weiterer Kritikpunkt Hoppichlers macht sich an der Tatsache fest, dass der Bezugswert auf der Verpackung für Erwachsene gilt. „Das ist insbesondere bei Produkten, die sich in der Aufmachung speziell an Kinder richten, problematisch“, so Hoppichler. Diese Problematik scheint für den deutschen Keks-Produzenten Bahlsen nicht zu existieren. Ganz im Gegenteil. Im Zuge einer Produktneuvorstellungen (siehe auch Seite 14) betonte Bahlsen, dass man gerade bei jenen Produkten, die sich explizit an Kinder richten, darauf geachtet hat, dass der Nutri-Score verbessert wurde. Ab sofort wird Bahlsen zudem im österreichischen LEH seine gesamte Leibniz-Range mit dem Nutri-Score versehen. „In Verbindung mit der Anpassung unserer Rezepturen und der Einbindung des Nutri-Scores auf den Packungsvorderseiten trägt die Marke Leibniz zu mehr Ehrlichkeit und Transparenz bei, um den Familien eine ausgewogene Ernährung durch umfassende Informationen über unsere Produkte zu erleichtern“, so Bahlsen Österreich-Geschäftsführerin Eva Aichmaier.

100 Gramm Butter auf einmal
Eines der ersten österreichischen Unternehmen überhaupt, das den Nutri-Score einsetzt, ist die NÖM. Auf der Homepage der Niederösterreicher wird der Einsatz des Nutri-Scores den Konsumentinnen und Konsumenten so schmackhaft gemacht: „Auf einen Blick könnt ihr jetzt die Nährwertqualität eures Produkts sehen. Mit dem übersichtlichen Nutri-Score Ampelsystem bieten wir allen gesundheits- und ernährungsbewussten Genießern nun eine Hilfestellung beim Einkauf ihrer nöm Milchprodukte. Ziel ist es, das Bewusstsein einer ausgewogenen Ernährung zu stärken und möglichst einfach bildlich darzustellen.“ Dass zwei Molkerei-Unternehmen wie die NÖM und die Berglandmilch derart diametrale Ansichten zum Thema haben, zeigt, dass der „Nutri-Riss“ quer durch die Branche verläuft. Berglandmilch-Chef Josef Braunshofer: „Der Nutri-Score mag für hochverarbeitete Lebensmittel seine Berechtigung haben. Milchprodukte sind überwiegend Grundnahrungsmittel und hier erachten wir die Nutri-Score-Beurteilung als zu einseitig.“ Nachsatz: „Ein System, das davon ausgeht, dass ein Mensch 100 Gramm Butter auf einmal isst, sollte aus unserer Sicht nochmals überdacht werden.“  Auch Gerald Hackl, Vorstandsvorsitzender der Vivatis Holding AG, spricht sich gegen den Nutri-Score aus: „Wesentliche Parameter für eine objektive Beurteilung eines Lebensmittels werden bei der Nutri-Score-Kennzeichnung aktuell nicht berücksichtigt. Das führt zu einer Irreführung und Fehlleitung der Konsumentinnen und Konsumenten und sorgt darüber hinaus für eine große Zusatzbelastung für die vielfach mittelständischen Unternehmen der österreichischen Lebensmittelindustrie. Ich appelliere deshalb an die Verantwortlichen, dieses System nochmals zu überdenken.“

... und endet in Frankreich?
Spar-Vorstand Kaser ortet im Zusammenhang mit dem Nutri-Score noch ein weiteres Problem. Und das hat mit dem Ursprungsland des Nutri-Scores zu tun. Kaser: „Der Nutri-Score ist als Unionsmarke in allen Mitgliedsstaaten geschützt. Wer ihn benützen möchte, muss dies bei der Agence nationale de santé publique, einer Organisation des französischen Gesundheitsministeriums, anmelden, da diese den Standard für die Verwendung des Nutri-Score-Logos erlassen hat. Das heißt, der Produzent berechnet den Nutri-Score selbst und muss diese Berechnung und die Rezeptur einzig gegenüber der französischen Behörde offenlegen und ansonsten niemandem. Eine weitere Offenlegungspflicht zum Beispiel österreichischen Behörden gegenüber besteht derzeit nicht.“ Während Kaser davor warnt, dass österreichische Unternehmen in die Abhängigkeit von französischen Behörden geraten können, pocht Hoppichler darauf, dass entweder alternative Kennzeichnungssysteme ins Auge gefasst werden oder dass der Nutri-Score selbst überarbeitet wird. „Der Nutri-Score wurde 2017 entwickelt. Allein in den letzten fünf Jahren haben wir in der Ernährung und der Medizin sehr viele neue Erkenntnisse gewonnen. Der Nutri-Score sollte sich daher unbedingt an den aktuellen ernährungswissenschaftlichen und medizinischen Erkenntnissen orientieren und auch dementsprechend weiterentwickelt werden.“
Wie es mit dem Nutri-Score weitergeht, ist aktuell noch unklar. So viel steht fest: Bis Ende 2022 will man sich auf EU-Ebene auf einen verpflichtenden Vorschlag in Sachen Lebensmittelkennzeichnung einigen. Dem Nutri-Score kommt dabei aus heutiger Sicht eine Favoritenrolle zu. Einiges spricht für ihn: Er ist weitverbreitet und verfügt über mächtige Fürsprecherinnen und Fürsprecher. Aber auch die Gegnerinnen und Gegner formieren sich. Die Uhr tickt. Es bleibt spannend.